Neutralität Österreichs – Ein Mythos oder gelebte Politik?
1955 hat der Nationalrat die Neutralität Österreichs als Verfassungsgesetz beschlossen. Seither hat sich die Republik immer weiter vom Schweizer Vorbild entfernt.
Am 26. Oktober erinnern sich die Österreicher alljährlich an die Beschlussfassung des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität durch den Nationalrat im Jahr 1955. Im Artikel 1 heißt es: „Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen.“ Der 26. Oktober wurde zum „Tag der Fahne“ erklärt und ist seit 1965 Nationalfeiertag. Im Nationalrat stimmten die Abgeordneten der ÖVP, der SPÖ und der Kommunisten für das Neutralitätsgesetz, die 14 Mandatare der WdU, der Vorgängerin der FPÖ, votierten dagegen. Sie argumentierten, die Österreicher hätten die Neutralität nicht „aus freien Stücken“ akzeptiert. Für Bundeskanzler Julius Raab ist „die Beschlussfassung der legitimen, frei gewählten österreichischen Volksvertretung in voller Unabhängigkeit und in voller Freiheit erfolgt.“ Und Raab stellte klar: „Durch den Gesetzgebungsakt werden in keiner Weise die Grund- und Freiheitsrechte der Staatsbürger beschränkt. Die Neutralität verpflichtet den Staat, nicht aber den einzelnen Staatsbürger. Die geistige und politische Freiheit des Einzelnen, insbesondere die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung, wird durch die dauernde Neutralität eines Staates nicht berührt. Damit ist auch keine Verpflichtung zur ideologischen Neutralität begründet.“ Das war eine deutliche Absage an einen Neutralismus und eine klare Positionierung Österreichs im Lager der freiheitlichen Demokratien.
Der lange Weg zur Freiheit
Die Neutralität Österreichs war eine Bedingung der Sowjetunion, einer der vier Besatzungsmächte neben den USA, Großbritannien und Frankreich, für das Zustandekommen des Staatsvertrags. Dieser wurde am 15. Mai 1955 im Wiener Schloss Belvedere unterzeichnet und trat wenige Wochen später, am 27. Juli, in Kraft. Nach zehnjähriger Besatzung ab Ende des Zweiten Weltkriegs erlangte Österreich wieder seine staatliche Souveränität, konnte den Vereinten Nationen beitreten und die Besatzungstruppen verließen das Land. Die entscheidenden Verhandlungen hatten für die ÖVP Bundeskanzler Julius Raab und Außenminister Leopold Figl, für den Koalitionspartner SPÖ Vizekanzler Adolf Schärf und Staatssekretär Bruno Kreisky geführt. Ludwig Steiner, der als Kabinettschef des Bundeskanzlers bei den Verhandlungen dabei war, berichtete später, auf SPÖ-Seite habe es zunächst zwischen Schärf und Kreisky unterschiedliche Meinungen zum Neutralitätsstatus gegeben. Im Gegensatz zum Vizekanzler sei der Staatssekretär offen für die Verwendung des Begriffes Neutralität eingetreten. Bruno Kreisky dazu in seinen Memoiren: „Der Weg zum Staatsvertrag wurde frei durch das Moskauer Memorandum, und das Moskauer Memorandum enthält als Definition unserer Neutralität den Passus über die Schweiz: ‚immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird‘.“
„Aktive Neutralitätspolitik“
Kreisky sah im Staatsvertrag und im Neutralitätsgesetz einen ersten Höhepunkt der europäischen Entspannungspolitik nach Kriegsende, dem Anfang der 1970er-Jahre die deutsche Ostpolitik von SPD-Kanzler Willy Brandt und 1975 die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) folgen sollten: „Wir haben die Neutralität am Beispiel der Schweiz definiert, denn ohne diese Definition wäre es wahrscheinlich schwer zu einer Verständigung zwischen den beiden Regierungsparteien gekommen. Wir haben deshalb das Beispiel Schweiz genommen, weil wir verhindern wollten, dass die Völkerrechtsexperten fremder Außenministerien unsere Neutralität definieren. Auf diese Art haben wir das von vornherein klargestellt. In der Zwischenzeit konnten wir eine österreichische Neutralitätsvariante entwickeln, die irgendwo zwischen der immerwährenden Neutralität der Schweiz und der Allianzfreiheit Schwedens zu suchen ist.“ Zunächst als Außenminister und dann als Bundeskanzler von 1970 bis 1983 verfolgte Bruno Kreisky eine „aktive Neutralitätspolitik“, machte Wien zum dritten UNO-Sitz und Österreich zu einem Begegnungsplatz der Weltpolitik.
Mehrheit für Neutralität
Österreich hat seine Neutralität vor 67 Jahren am Höhepunkt des Kalten Kriegs, als Europa durch den Eisernen Vorhang getrennt war, proklamiert und seither zweifellos davon profitiert. Seit 1955 hat sich unsere Neutralität aber gewandelt und vom Schweizer Vorbild immer mehr entfernt. Das begann mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen und führte bis zur EU-Mitgliedschaft mit der Verpflichtung, an der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik teilzunehmen. Der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine hat zuletzt in neutralen Ländern wie Schweden oder Finnland zu einem strategischen Umdenken bis hin zu einem NATO-Beitritt geführt. Und auch in Österreich wird – vorwiegend in den Medien – eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Neutralität in einem neuen geopolitischen Umfeld geführt. Die Haltung der Bevölkerung ist freilich eindeutig: Laut einer Umfrage vom März stimmen 78 Prozent der Österreicher zu, dass die Neutralität nach wie vor zeitgemäß sei. Das sind um fünf Prozent mehr als 2018. Von den politischen Parteien stellen lediglich die NEOS die Neutralität offen infrage. Eine erforderliche Zweidrittelmehrheit im Nationalrat für ein Abgehen von der Neutralität ist somit nicht in Sicht. Die Neutralität hat ihren identitätsstiftenden Charakter über die Jahrzehnte offenbar behalten. Was bleibt, ist jedenfalls die Verpflichtung, ein verteidigungsfähiges Bundesheer sicherzustellen, und die Möglichkeit, die neutrale Stellung Österreichs für politische Dialogprozesse verstärkt zu nutzen. Aber die Welt dreht sich weiter und die heimische Neutralitätsdiskussion wird gewiss eine Fortsetzung finden.