Francisco Carolinum Linz
Francisco Carolinum Linz
Grande Dame der zeitgenössischen Kunst Polens

The mysterious world – Natalia LL

Mit der Ausstellung „The mysterious world – Natalia LL“ im Francisco Carolinum Linz wird die Grande Dame der zeitgenössischen Kunst Polens erstmals in einer umfassenden Retrospektive in Österreich gezeigt.

In den 1970er Jahren schafft die Künstlerin Natalia LL (Jahrgang 1937) Ikonen der feministischen Bildproduktion: Die Werkreihe „Consumer Art“ zeigt Bilder von jungen Frauen, die genussvoll Bananen, Würste oder Eiscreme verspeisen und bricht radikal mit dem kühlen Rationalismus konzeptueller Kunst. Was in gängigen Werbebotschaften Sinnlichkeit und Erotik verspricht, wird in ihren Arbeiten als selbstbewusste feministische Position artikuliert. Noch im April 2019 erhitzte diese Werkreihe die Gemüter. Das Nationalmuseum Warschau ließ sie mit der Begründung, dass junge Menschen Schaden davon tragen könnten, aus seiner Schausammlung nehmen. Diese Zensur war Anlass für eine Protestbewegung in den Sozialen Medien: Unter dem Hashtag BananaGate verbreiteten sich rasant Bilder von Menschen, die im Rahmen einer Demonstration in Warschau Bananen verzehrten.

Die Themen Sehnsucht und Fantasien, Träume und Irrationales sind wichtige Bezugspunkte in Natalia LLs Schaffen. Performativ und dokumentarisch dehnt sie die Grenzen der rationalen Erfahrung und sexualisierten Körperlichkeit aus in Bereiche des Mystischen, Schamanistischen und Transzendentalen.

Natalia Lach-Lachowicz wurde 1937 in Żywiec, Polen geboren und studierte von 1957 bis 1963 an der Akademie der Bildenden Künste in Wroclaw Grafik, Malerei und Glasgestaltung.

Ausgewählte Werke

PERMAFO NEWSPAPER, 1972 – 1980

Der Ausstellungsort PERMAFO wurde 1970 in Wrocław von Natalia LL, Andrzej Lachowicz, Zbigniew Dłubak und Antoni Dzieduszycki gegründet und diente als Plattform, um neue und veränderte künstlerische Aktivitäten zu ermöglichen und öffentlich zu machen. Das Manifest der Gruppe beschreibt den Ansatz einer „permanenten“ Kunst – permanente Fotografie und permanente Formalisierung – PERMAFO:

„Wir sind ausschließlich an der Wirklichkeit interessiert. Die Linse eines Fotoapparates oder einer Filmkamera und licht-empfindliche Materialien sind Zeugen von Phänomenen, die sich Sekunde für Sekunde für unsere Wahrnehmung verflüchtigen. Ihre Aufzeichnung mit hoher Frequenz garantiert, die Verformungen und Irrtümer zu minimalisieren, die bei einer Auswahl auftreten, die auf Gewohnheit, Konventionen und Traditionen beruht.“

Neben Ausstellungen und Aktionen spielten Publikationen für die Verbreitung der Ideen der Gruppe eine wichtige Rolle. Alle Drucksachen wurden abseits offizieller Kanäle produziert und zirkulierten von Hand zu Hand, um die Zensur zu umgehen. PERMAFO NEWSPAPER zeigte auf ihrer Frontseite Abbildungen der Werke und dokumentierte flüchtige Aktionen und künstlerische Texte. 1981, mit der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen, das die beginnende Demokratiebewegung und die freie Gewerkschaft Solidarność zerschlagen sollte, wurde auch die Galerie geschlossen.

INTIMATE REGISTRATION – KOSMO, 1969 VELVET TERROR, 1970
NATALIA IST SEX, 1974
ARTIFICIAL PHOTOGRAPHY, 1975 ANIMAL ART, 1977

Die Intimate Fotografie-Serien vom Ende der 1960er Jahre sind ein Beispiel der „permanenten“ Fotografie, der nüchternen Aufzeichnung des Realen. Sie zeigen befreundete Paare und auch die Künstlerin mit ihrem Partner beim Sex. Bei der Aufzeichnung der Wirklichkeit macht Natalia LL vor keinem Tabu halt. Sie interessiert sich für Pornografie, die auch in Polen in den 1960er Jahren vor allem aus Skandinavien Verbreitung fand. Natalia LL wird bewusst, dass die rein dokumentarische Fotografie der Wirklichkeit das Wesentliche, die Emotionen und Gefühle, nicht wiedergeben kann. So arbeitet sie schon früh mit inszenierten Bildern, die Klischees der Darstellung des Weiblichen aufgreifen. Sie inszeniert sich für Velvet Terror als Domina mit hohen Stiefeln, Peitsche und Dienerin. Einige Jahre später räkelt sie sich für Animal Art auf dem Sofa in dem verführerischen Bild einer Frau, die sich nur mit einem Pelz verhüllt.

Parallel führen Versuche mit filmischen und fotografischen Doppelbelichtungen das Thema weiter. Eine Person mit mindestens zwei Identitäten taucht dort auf. Artificial Photography ist ein Wechselspiel zwischen der bürgerlichen Natalia auf dem Sofa im gemeinsamen Haushalt und einer animalisch nackten Natalia.

Die Werke der Intimate Photography wurden 1972 bei der ersten Ausstellung der PERMAFO Galerie als große Drucke in einem kleinen temporären Kabinett gezeigt und von der Zensur geschlossen. Mit dieser Serie wurde Natalia LL 1974 auch erstmals in Westberlin gezeigt. Mit der ihr eigenen Intelligenz – die Reduktion der Arbeit durch Presse und Zensur auf das Pornografische vorwegnehmend – änderte sie das Arrangement der kleinen intimen Aufnahmen und bildete daraus die Buchstaben Natalia ist Sex.

WORD, 1971 TAK, 1971

Die erste Ausgabe der PERMAFO Newspaper vom 15.07.1972 präsentierte die Arbeit „Słowo“ Word von Natalia LL. Die Fotografien zeigen performative Aktionen, bei denen Wörter, wie etwa das Wort „TAK“ – Ja – mit konzentrierten Bewegungen des Mundes in wechselnder Intonation ausgesprochen werden. Die Kamera dokumentiert die unterschiedlichen Mund- und Lippenhaltungen. Der kräftige Lippenstift des Modells betont dabei ihre erotische Ausstrahlung und erweitert die streng konzeptuelle Ausrichtung der Aktion mit ihrer Konzentration auf das Wort, die Idee, um eine in der konzeptuellen Kunst ungewöhnliche sinnliche Dimension.

Häufig benutzt Natalia LL in dieser Zeit ihre fotografischen Arbeiten in großen wandfüllenden Drucken als Hintergrund für Aufführungen und Aktionen.

PERMANENT MEASUREMENT OF TIME, 16 mm Film, 1970
PERMANENT MEASUREMENT OF EVERY 1 KM OF THE E22 MOTORWAY, 16 mm Film, 1970 NATURAL SURROUNDING – 250 METERS OF THE ROAD, 1971

Die kurzen 16 mm Filme und die dazugehörigen Fotografien belegen die streng konzeptuelle Ausrichtung der Künstlerin zu Beginn ihrer Tätigkeit. Einmal werden die Zeiger einer Stoppuhr für knapp 35 Sekunden aufgenommen. Reale Zeit, dokumentierte Zeitmessung, filmische Zeit und die Zeit für das Anschauen des Films werden parallel gesetzt. Beim anderen Film werden nach einer Anfahrt mit dem PKW zur Autobahn einzelne Kilometersteine als Standbilder gezeigt. Die permanente Vermessung der Realität – zunächst als Zeit und Raum – ist auch in 250 Meters of the Road ein Thema. Natalia LL: „Kunst geschieht in jedem Moment der Realität, jede Sekunde ist einmalig und einzigartig für ein menschliches Wesen.“ Die fragmentierte Aufzeichnung des Realen soll das Publikum dazu anregen, zu ergänzen, was vorher geschah und danach geschehen wird. Für Natalia LL ist dieses Prinzip der „permanenten“ Kunst elementar. Sie ist weniger am Kunstwerk interessiert sondern viel mehr an dem, was sich zwischen dem Kunstwerk und der Reflektion des Publikums entwickelt.

CONSUMER ART, 1972 – 1974 POST CONSUMER ART, 1975

Viele Autor*innen beschreiben Natalia LL in den 1960er und 1970 als eine junge, lebensfrohe Frau, die sich frisch und Hals-über-Kopf in einen intellektuellen Künstler verliebt, ebenso intellektuell orientiert ist, sich klug und intelligent mit den neuesten Tendenzen und Theorien der internationalen Avantgarde der Konzept-Kunst und anderen Formen künstlerischer Aktivität jenseits der traditionellen Medien auseinandersetzt. Gemeinsam mit anderen Künstler*innen wollen sie die verkrusteten Strukturen der kommunistischen Gesellschaft aufbrechen und andere Formen des künstlerischen Dialogs entwickeln. Eher spielerisch, unbekümmert macht sie Filme und Fotos mit

jungen Modellen, die keine Pornografie, aber auch nicht bloß Aufnahmen vom Verspeisen einer Banane und anderer phallischer Nahrung oder vom Herumschlecken an irgendeiner schleimigen Substanz sind. Sie sind doppeldeutig und treffen wohl einen Nerv der Zeit. Der internationale Feminismus sieht Bilder der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung einer Frau, die das Recht auf körperliche Lust selbstbewusst propagiert und die Produktion erotischer Bilder selbst in die Hand nimmt. Natalia LL ist davon überzeugt, dass die Frauen zu dieser Zeit in Polen bereits emanzipierter sind als die im Westen und fühlt sich eher den damaligen Randgruppen queerer Persönlichkeiten verbunden.

Was sie interessiert zu haben scheint, ist die Möglichkeit, dass ein Bild, ein fotografisches Bild, je nach Konditionierung der oder des Betrachtenden ganz unterschiedlich gelesen wird.

DREAMING, 1978, 1979
PYRAMID, 1979
STATE OF CONCENTRATION, 1981 TWITCHES, 1981

Ab Mitte der 1970er Jahre wendet sich Natalia LL anderen Methoden kreativer Prozesse zu. Schlafen und Träumen werden zu einem wichtigen Bereich, der eventuell ein „Break On Through To The Other Side“ (Doors, 1967) jenseits das Alltagsbewusstsein ermöglichen kann.
Die Performance Pyramid wurde an verschiedenen Orten in einem Modell der Cheops-Pyramide durchgeführt. Das Konzept entspricht den zur gleichen Zeit aufgeführten Aktionen des Zyklus Dreaming. Es geht darum, bewusst in Schlaf zu fallen und zu träumen. Die Künstlerin berichtet von Träumen, die Vergangenes wiedergeben und die in die Zukunft weisen. Die Pyramide sollte zusätzliche Energien freisetzen als: „Detektor oder Generator der Energien des Unbewussten, die in uns verborgen bleiben, weil die Erfahrung unserer Spezies unterdrückt ist“.

Unter dem Motto State of Concentration versucht Natalia LL durch meditative und körperliche Praktiken den Alltagszustand des Bewusstseins und der Wahrnehmung zu verändern, um andere spirituelle Erfahrungen zu machen und zu vermitteln. Sie sucht in ihren Séancen intuitive Erkenntnis und Wissen jenseits naturwissenschaftlicher Lehrmeinungen.

Dabei beschäftig sich die Künstlerin auch vermehrt mit der christlichen, katholischen Kosmologie. Sie sucht eine Balance zwischen zerstörerischen und erhaltenden Kräften und versucht Dämonen und auch den Teufel im Bann zu halten. In anderen Aktionen widmet sie sich der Astrologie und versucht die Kraft und Dimension der Sternbilder körperlich nachzubilden.

Sie spielt nicht einfach mit den klassischen Modellen der Frau als Priesterin, Schamanin, Weissagerin, Seherin, Heilende, Hexe, Göttin oder Medium zwischen den Welten. Sie untersucht diese Modelle ernsthaft und mit aller Konsequenz, setzt sich in Trance, Ekstase, fällt in Zuckungen und probiert körperliche Grenzsituationen.

DAWN TRAGEDY, 1988 DESTRUCTION, 1988 PANICKY TERROR, 1989

Die 1980er Jahre sind auch geprägt von der persönlichen Erfahrung des Alterns, des Verlusts der Jugendlichkeit und Krankheit. Sie wendet sich stark belasteten emotionalen Themen zu, Gefühlen des drohenden Verlusts, der Angst und Panik, der Destruktion und Vernichtung. Vermehrt setzt sie auch malerische Mittel ein. (Das grafische und malerische Werk wird in dieser Ausstellung nicht gezeigt.) Das Ungenügen an der Fotografie, an der nüchternen permanenten Aufzeichnung der Realität, findet seinen Ausdruck. Fotos, die immer wieder ihr Gesicht zeigen, werden überarbeitet, übermalt oder mit Objekten versehen.

BRUNHILDA, 1993 TRANSFIGURATION OF ODIN, 2009 ODIN’S GIGGLE, 2009

Übermächtige Gefühle, das Irrationale und Emotionale, das die Vernunft ausschaltet und uns bewegt, leiten und mit einer tiefen Verbundenheit zum Lebendigen erfassen kann, dafür steht bei Natalia LL auch im späteren Werk vermehrt die Musik Richard Wagners. Verbunden mit der nordischen Mythologie, Götterhelden und Heldinnen, spielt sie in ihren Inszenierungen damit, die Grenzen der Zeit und des Raums, des Körperlichen und Vergänglichen zu überschreiten. Kunst, die Performance und die Inszenierung werden zu Formationen, die es ermöglichen, den Ausgangszustand zu transfigurieren. Im Bild, in der Aktion kann ewiges Leben, ewige Jugend und Schönheit erlangt werden. Dafür stehen die performativen Inszenierungen zu Odin und Brunhilde. Dabei setzt sie auf theatralische und übertriebene Motive. Sie scheint wieder eine lebensfrohe, jung gebliebene Frau zu sein, die sich verkleidet und spielerisch mit allen Rollen umgehen kann. Odin’s Lachen siegt über die Misslichkeiten des Lebens.

Infos zu „The mysterious world – Natalia LL“

Bis 26. September 2021
Francisco Carolinum Linz
Museumstraße 14
T: +43 (0)732 7720 522 00
E-Mail: galerie@ooelkg.at
www.ooekultur.at