Premierenreigen
Premierenreigen
in der Hofgasse

Schauspiel Graz

Auch das Schauspiel Graz hat einen Produktionsstau und bringt bis Ende Juni noch so einige Neuinszenierungen heraus.

Am 19. Mai wurde die Premiere von Clemens Setz‘ „Flüstern in stehenden Zügen“ gestreamt. – C ist allein, nicht nur physisch, sondern auch emotional. Seine scheinbar einzige Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt ist das Telefon. Aber wen anrufen, wenn man niemanden hat? Was könnte es da Aufbauenderes geben als ein Telefonat mit einer dubiosen Kundenhotline? Oder endlich den Spieß umdrehen und die Absender all der nervigen Spam-Mails zur Rede stellen und dabei einmal um die Welt telefonieren!

Clemens J. Setz, ein Meister des Skurrilen, des rätselhaften magischen Realismus, erforscht eine kuriose Seite der Globalisierung – das Betrugsmaschenkonzept via Mail und Telefon – und erschafft das ebenso tieftraurige wie humorvolle Porträt eines Menschen in der Isolation. Das Stück wurde in einer Theaterfilmvariante erstmals an den Münchner Kammerspielen digital gezeigt. Die Uraufführung hätte analog in Graz stattfinden sollen. Außerdem ist im Juni eine Hörspielfassung auf Ö1 zu hören, die in Kooperation zwischen Schauspielhaus Graz und ORF entsteht.

„Der große Diktator“ im Schauspiel Graz

1940 kam Charlie Chaplins erster Tonfilm in die Kinos. Gegen alle Widerstände realisiert, wurde „Der große Diktator“ zu einem seiner größten Erfolge. In der Doppelrolle als megalomaner Diktator und liebenswürdiger jüdischer Friseur, der aufgrund seiner physischen Ähnlichkeit mit dem „Führer“ verwechselt wird, entzauberte Chaplin die demagogischen Strategien Hitlers und gab dessen größenwahnsinnige Ambitionen der Lächerlichkeit preis.

Nicht nur in ihrem Erscheinungsbild waren sich Chaplins Kunstfigur, der „Tramp“, und Adolf Hitler frappierend ähnlich; viele seiner Zeitgenossen verharmlosten Hitler als Clown, als nicht ernst zu nehmende Witzfigur. Von dieser folgenreichen Fehleinschätzung zeugt stellenweise auch „Der große Diktator“ – bei aller Schärfe und Präzision, mit der der nationalsozialistische Machtapparat darin parodiert wird. „Hätte ich etwas von den Schrecken in den deutschen Konzentrationslagern gewusst“, wird Chaplin später in seiner Autobiographie einräumen, „ich hätte ‚Der große Diktator‘ nicht zustande bringen, hätte mich über den mörderischen Wahnsinn der Nazis nicht lustig machen können.“

Mit diesem Wissen im Gepäck, ist die Inszenierung nicht an einer simplen Reproduktion der filmischen Vorlage interessiert, sondern sucht nach einer künstlerischen Auseinandersetzung auf der Höhe unserer Zeit, die nicht zuletzt eine Zeit erstarkender rechtsnationaler und antisemitischer Tendenzen sowie populistischer Verführungsstrategien ist. Die Diskrepanz zwischen filmischer Darstellung, historischer Wahrheit und zeitgenössischem Wissen befeuert die Auseinandersetzung mit einem Meisterwerk der frühen Tonfilmzeit zwei Generationen nach dessen Entstehung.

„Zitronen Zitronen Zitronen“

Politische Debatten, privates Geplapper, Katzenbilder, Hasskommentare, Spam – 7.7 Milliarden Menschen auf der Welt sprechen 16.000 Worte pro Tag und 417.560.000 im ganzen Leben. Multipliziert durch Internet, TV, Radio, Handy ergibt das ein gewaltiges und exponentiell ansteigendes Kommunikationsaufkommen.

In seinem preisgekrönten Stück entwirft der britische Autor Sam Steiner eine undemokratische Versuchsanordnung: In einer nahen Zukunft wird ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die Kommunikation auf 140 Wörter pro Tag und Mensch begrenzt.

„Zitronen Zitronen Zitronen“ ist die Liebesgeschichte eines ungleichen Paares – in der Inszenierung im Schauspiel Graz von Anne Mulleners heißen sie Bernadette und Olivia – während der zunächst drohenden und dann real existierenden Schweigeverordnung. Bernadette ist Juristin, Olivia Musikerin, Bernadette akzeptiert das Gesetz, Olivia engagiert sich lautstark dagegen. Wie arrangieren sie sich mit dem Tageslimit? Bedeutet eine Reduktion der Wörter weniger Gemeinsamkeit oder weniger Streit? Verlieren sie sich oder lernen sie sich überhaupt erst kennen? Ohne Dogmatismus spielt der junge britische Autor durch, was eine Reduktion des Grundrechts auf „Redefreiheit“ privat und politisch bedeuten könnte.

Ab 26. Mai: Lems „Sterntagebücher“

Zum ersten Mal weltweit ermöglicht ein Hochpräzisions-Spektograph der Öffentlichkeit eine Boden-Weltraummission. Das heißt: Das Leben auf fremden Sternen kommt einfach, kostengünstig und (fast) interferenzfrei nach Graz ins Schauspielhaus!

Wer sind wir Menschen eigentlich? Können Maschinen denken und fühlen? Wie funktioniert Zusammenleben? Zur Beantwortung großer erkenntnistheoretischer, politischer, ethischer und psychologischer Menschheitsfragen hilft mitunter galaktische Entfernung. Die „Sterntagebücher“ des legendären polnischen Futurologen Stanisław Lem, erschienen zwischen 1957 und 1971, bieten eine ideale Startrampe für eine unterhaltsam-hintergründige Zeitreise durch die unendlichen Weiten des Alls, in dem die Begrenztheit menschlicher Lernfähigkeit umso deutlicher wird.

Ab 15, Juni: „Hausgeist“

Wie jedes Kind weiß, hausen in alten Gemäuern Gespenster. Sie spuken bekanntlich vom Keller bis zum Dachboden durch die Gänge, gehen durch Wände und sind vornehmlich damit beschäftigt, Menschen zu erschrecken. Sie rasseln mit Ketten und geben schaurige Laute von sich. Nicht anders wird es wohl im Schauspielhaus sein, das vor fast genau 200 Jahren erbaut wurde. Oder ist hier etwa alles ganz anders, wenn sich der scheue Hausgeist mal zeigt? Steckt unter der bleichen Gespensterhülle vielleicht ein verletzliches Wesen, eine unerlöste Seele, ein einsamer Geist, der zwar zermürbt ist vom langen Alleinsein, der aber gelernt hat, sich selbst zu unterhalten, indem er Selbstgespräche führt, tanzt und singt und grazil durch die Gegend schwebt? Spukt hier ein ätherisches Wesen aus der Ewigkeit, ein freundlicher Untoter von der anderen Seite, der auf der Suche ist nach Kontakt, Gespräch und Gesellschaft? – In ihrer neuen Solo-Performance loten Navaridas & Deutinger auf humorvoll-poetische Art und Weise die Dialektik von Nutzlosigkeit und Nützlichkeit und Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in Gestalt einer geisterhaften Künstlerexistenz bzw. eines künstlerisch begabten Geisterwesens aus. Nach langen Monaten der Geisterspiele ohne Zuschauer*innen im Theater ein Abend vor Publikum mit Gespenst.

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